Migration und die interkulturelle Realität

Die angenehme Art, die Interkulturalität in dem eigenen Lande zu erleben, sind die Touristen: Sie kommen, lassen ihr Geld und gehen wieder.
Die weniger angenehme Art der Interkulturalität sind die Migranten: Sie kommen, haben kein Geld und bleiben.

Für viele ist der Migrant eine Zumutung.
Das meine ich ernst, obwohl – bzw. weil – ich eine Migrantin bin.
Die Migranten strapazieren die Sinne. Sie riechen nach fremden Speisen und Gewürzen… oder nach zu viel Parfüm. Die Männer tragen beim Einkaufen zu große Anzüge oder gehen in Unterhemden spazieren.
Die fremden Frauen sind entweder vom Kopf bis Fuß verdeckt, tragen lange nicht gerade schöne Mäntel oder sehen zur Abwechslung wie Barbiepuppen aus: viel Makeup, hohe High Hells, körperbetonte Kleidung, oft sehr kurz… zu kurz. Es reizt die Sinne der deutschen Ehemänner und die Gemüte der deutschen Ehefrauen.
Viele der Migranten können kein bzw. nicht ausreichend Deutsch. Und wenn sie schon Deutsch kennen, dann strapazieren sie die Ohren mit ihrem komischen Akzent oder ihren Sprachfehlern.
Am Arbeitsplatz quälen sie mit ihrer langen – für ein normales Ohr – unverständlichen, unsicheren Argumentation. Sie machen Witze, die keiner versteht, lachen da, wo es nichts zu lachen gibt und obendrauf nehmen sie alles persönlich und werden schnell beleidigt.
Migration zwingt zu kulturellen Reisen. Auch die Stubenhocker, die keine Lust aufs Reisen haben, müssen aufbrechen. Und zwar in trivialen alltäglichen Situationen zum Wurstkaufen und zum Bäcker auch.

Diese Erfahrungen tun dem eigenen Gemüht weh. Es stört, nervt und bringt einen gewissen Aua-Effekt mit sich. Den kulturellen Schock, die kulturbedingte Unsicherheit, Desorientierung, Aggression, Müdigkeit und vieles mehr erleben nicht nur die Migranten an der kulturellen Schwelle zu Deutschland, sondern auch die Deutschen an der kulturellen Schwelle zur osteuropäischer, balkanischer, afrikanischer Kultur… und zwar in dem eigenen Land. Sie haben natürlich den Heimvorteil, er bietet ihnen mehrere Rückzugsorte und andere Möglichkeiten, die Unbehaglichkeit los zu werden. Aber von der interkulturellen Realität sind sie genauso getroffen.

Die Erkenntnis, wie schwierig es ist, den Fremden zu akzeptieren, kennt auch die christliche Mythologie, das Alte Testament. Was ich darin zum Thema „Fremde“ gefunden habe, ist in die Aufforderung an die Einheimischen „Ihr sollt den Fremden lieben“ (Dtn 10.19.) gefasst und nicht in die Aufforderung an die Fremden. Vielleicht wusste der Autor schon damals, dass „ein Fremde“ als Fremdkörper reizt und stört und ausgestoßen werden will. Das hebräische Wort `hb (ahav; dt. lieben) ist von seiner Bedeutung mit dem deutschen Wort „lieben“ fast deckungsgleich. Die „Fremdenliebe“ damals bedeutete vor allem, Nahrung, Kleidung und Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Heute in unserer Wegwerfrealität ist die Kleiderspende kein Zeichen der „Nächstenliebe“, sondern ein Zeichen des Überflusses. Heute bedeutet die „Fremdenliebe“ Respekt, Anerkennung der Fähigkeiten und der (Bei)stand bei den Veränderungsprozessen, die jeder Migrant durchläuft, wenn er in einer „neuen Kultur“ Fuß fassen will. Vor allem aber bedeutet es Chance auf Teilnahme … eben Chance auf Integration und auf dieselbe Augenhöhe.

Allerdings, die Bereitschaft, den Migranten eine Chance auf Integration zu geben muss mit dem Willen zur Integration der Migranten verbunden sein. Den Fremden zu „lieben“, bedeutet vor allem, ihm unsere Werte und Gesetzte zu erklären und diese einzufordern. Ohne die Klarheit über die Normen und Gesetzmäßigkeiten unseres Alltags, ist die Anpassung des Migranten äußerst schwierig, bzw. unmöglich.

Meiner Erfahrung nach hat die Integration der Migranten ohne Respekt der Einheimischen wenig Chance auf Erfolg. Kein Migrant, nicht mal der mit der besten Ausbildung und mit den perfekten Sprachkenntnissen und dem entschlossenen Integrationswillen hat die Chance in einer Gesellschaft Anschluss zu finden und seinen Alltag neu gestalten zu können, wenn es niemanden gibt, der ihn annimmt und ihm sein Fremdsein (ver)zeiht, also ihn seines Andersseins wegen nicht beschuldigt oder ihn deswegen verleumdet.

Die Migranten brauchen unsere Hinwendung, damit sie in Deutschland – auch im Dienste für diese Gesellschaft – sich integrieren können. Die Migranten sind so gut in Deutschland integriert, wie sie deutsche Freunde haben. Ohne unsere Freundschaft und Nachsicht hat das Integrationsbemühen der integrationswilligen Migranten keine Chancen auf Erfolg.